Das 16. Jahrhundert wird als Beginn der Neuzeit bezeichnet. Die Renaissance (entlehnt aus dem Französischen: Wiedergeburt) beendet das "dunkle" Mittelalter. Und natürlich spiegeln diese Veränderungen auch in der Musik deutlich wider.
Musikgeschichte(n) aus der Quarantäne
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Zusammenfassung
Das 16. Jahrhundert wird als Beginn der Neuzeit bezeichnet. Die Renaissance (entlehnt aus dem Französischen: Wiedergeburt) beendet das "dunkle" Mittelalter. Und natürlich spiegeln diese Veränderungen auch in der Musik deutlich wider.
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Wer hat's gemacht?
Dieser Artikel wurde mit ♥ für Euch verfasst von Henriette. Henriette studierte Musikwissenschaften in Weimar sowie klassischen Gesang in Leipzig und ist als freischaffende Sängerin tätig. Während des Corona-Shutdowns unterstützt sie die Schola Cantorum mit Beiträgen zur Musikgeschichte und beweist dabei: Wissenschaft ist alles andere als graue Theorie!
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Lesedauer
Lesedauer: 10 Minuten • Musikbeispiele: 18 Minuten
5. Kapitel: Die franko-flämische Vokalpolyphonie
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Die Renaissance (15. und 16. Jahrhundert)
Zu Beginn des 15. Jahrhunderts zeichnet sich eine neue Geisteshaltung ab, die die Welt verändern und Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens haben sollte: die Renaissance. Sie prägt das 15. und 16. Jahrhundert in Europa auch in der Musik. "Renaissance" heißt "Wiedergeburt" und meint damit die Wiedergeburt antiker Ideen. Die beiden wichtigsten, die auch in der Musik ihre Spuren hinterlassen, sind die folgenden:
1. Der Mensch ist ein schöpferisches und empfindsames Wesen und steht im Mittelpunkt der Betrachtungen.
Die Modi (Tonarten) erhalten einen größeren Stellenwert, denn sie erregen nach antikem Vorbild verschiedene Regungen beim Zuhörer. Ein Stück kann nun "schön" oder "nicht schön" sein: Der Klang entscheidet darüber, nicht die fehlerfreie Konzeption oder die Funktion des Stückes. Der Komponist arbeitet zwar weiterhin nur mit Auftrag und seine Werke sind einem Zweck untergeordnet, allerdings wächst das Verständnis dafür, dass es gute und schlechte Komponisten, oder gar Genies gibt. Der Komponist ist im besten Sinne nun ein "Künstler".
2. Die Natur soll nachgeahmt werden.
Der Text soll möglichst wortgetreu und gemäß seiner Bedeutung vertont werden. Durch musikalische Rhetorik wird das Wort möglichst naturalistisch abgebildet. So wird zum Beispiel der Rhythmus einer Melodie von dem zugrundeliegenden Wort bestimmt. Neu und wichtig ist auch die Ausdeutung von Texten (damit verbinden sich 1. und 2.).
Michelangelos berühmte Malerei in der Sixtinischen Kapelle verdeutlicht die genannten Punkte für die bildende Kunst. Der Mensch ist ein Individuum, von Gott selbst berührt und erwählt. Die abgebildeten Körper sind so naturalistisch wie möglich (wenn auch sehr idealistisch) dargestellt. Übrigens: Gott als Menschen darzustellen, wird in der Renaissance überhaupt erst möglich.
Die Erschaffung Adams (Michelangelo), Public domain, via Wikimedia Commons
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Die franko-flämische Vokalpolyphonie in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts
Die franko-flämische Vokalpolyphonie (ffV) beginnt mit der Verschmelzung der englischen, französischen und italienischen Musik des 14. Jahrhunderts in den Werken von Guillaume Dufay. Der etwas komplizierte Name dieser Epoche trägt der Tatsache Rechnung, dass deren Entwicklung von Komponisten ausging, die im Norden Frankreichs ("franko") und im Bereich des heutigen Belgien und der Niederlande ("flämisch") wirken.
Die weltliche Musik dieses Epochenabschnitts ist vor allem vom Chanson geprägt, einem mehrstimmigen, tanzartigen Lied im Dreiertakt. Dabei orientiert sich erstmals der Rhythmus der Melodie am vertonten Text. Unangefochtener Meister dieser Chansons ist Gilles Binchois, ein Musiker am Hof von Burgund.
Die geistliche Musik besteht im Wesentlichen aus folgenden Gattungen:
Vertonung des Messordinariums: Hier ist besonders die Ténormesse zu erwähnen. Sie legt allen Messsätzen (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei) den gleichen Cantus firmus (oder eben Ténor) zugrunde und schafft damit eine Einheit innerhalb der Messe.
Motetten der franko-flämischen Vokalpolyphonie sind vor allem geistlichen Inhalts und vierstimmig besetzt. Der Text bestimmt oft schon die Form und den Ausdruck der Musik. Allen Stimmen liegt wieder der selbe Text zugrunde.
Einige weitere kompositorische Merkmale sind von besonderer Bedeutung. So orientiert sich die Melodie des Cantus firmus mehr und mehr hin zur höchsten Stimme, dem "Diskant". Die "Imitation" (also die gegenseitige Nachahmung von Stimmen) wird als Kompositionsprinzip entwickelt. Auffallend ist auch, dass alle Stimmen "gesanglich fließen". Der Einfluss der Instrumentalmusik wird zudem immer geringer, sodass die reine Vokalmusik in den Vordergrund tritt.
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Die franko-flämische Vokalpolyphonie in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts
In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts konzentrieren sich die Komponisten vor allem auf die Kirchenmusik. Andere Gattungen treten eher in den Hintergrund. Das in den Jahren zuvor entwickelte Prinzip der Imitation wird immer weiter entwickelt. Dies führt dazu, dass sich alle Stimmen einer Komposition gegenseitig nachahmen und sich dadurch gleichberechtigt gegenüberstehen. Befördert wird dies dadurch, dass der Cantus firmus (der nach wie vor einer Komposition zugrunde liegt) durch alle Stimmen "wandern" kann.
Während in vorangegangenen Epochen die Melodie von anderen (nicht eigenständigen) Stimmen nur gestützt wird, haben nun alle Einzelstimmen eines Werkes eigenen Charakter und Wert. So beginnt man den Begriff der "Polyphonie" zu verstehen: Die verschiedenen Stimmen werden selbstständig und linear geführt. Anders gesagt: Die melodische Eigenständigkeit der Stimmen hat Vorrang vor der harmonischen Bindung. Gewissermaßen kann man hier auch den wichtigsten Gedanken der Renaissance wiederfinden: Jede Stimme (jeder Mensch) ist für sich gültig wie wichtig und muss sich weder verstecken, noch unterordnen.
Johannes Ockeghem (ca. 1420–1497) ist einer der wichtigsten Komponisten dieser Zeit. Er ist vor allem für seine Messvertonungen (mit zahlreichen Imitationen) berühmt.
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Die franko-flämische Vokalpolyphonie vom Ende des 15. Jahrhunderts bis 1521
Dieser Zeitabschnitt bildet den Höhepunkt der A‑cappella-Musik des 16. Jahrhunderts. Die Imitation wird auf die Spitze getrieben und kulminiert in der Durchimitation ganzer musikalischer Sätze. Durch Gliederung der Stücke, Bildung von Abschnitten und Zuordnung verschiedener Stimmen, entsteht in Ansätzen der Eindruck von Mehrchörigkeit. Auffallend ist die Lust am vollen Chorklang. Auch die musikalische Abbildung des Textes wird weiterentwickelt. Das führt dazu, dass die Musik immer weiter in den Dienst des Textes gerät, was sie immer weniger autonom macht. Wichtig wird jetzt auch die Dissonanz (Missklang), die als Ausdrucksmittel entdeckt wird.
Die wohl wichtigsten Komponisten dieser Zeit sind Josquin Desprez (dessen Todesjahr 1521 das Ende dieses Zeitabschnitts begründet), Heinrich Isaac (1450–1517) und Jacob Obrecht (1457–1505). Für Musikforscher Karl Heinrich Wörner ist Desprez einer der "wichtigsten Komponisten der abendländischen Musikgeschichte", denn seine Expressivität und Kreativität lotet alle Bereiche der damaligen Musik aus und überrascht. Doch was ist damit gemeint? Dazu muss man sich vorstellen, dass vor Desprez scheinbar niemandem aufgefallen ist, dass man ein "Gloria" (also einen Lobgesang) in einem anderen Ausdruck komponieren könnte, als ein "Miserere Mei" (also eine Bitte um Erbarmen).
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Die franko-flämische Vokalpolyphonie von 1521 bis 1600
In der Weiterentwicklung der sich immer mehr durchsetzenden musikalischen Mittel (Durchimitation, prachtvoller Klang, Textbezogenheit, glatte und cantable Gesangslinien) liegt die Bedeutung dieser Epoche. Neben der als Norm angesehenen Vierstimmigkeit entwickelt sich in den Vokalkompositionen nun auch Fünf- oder Sechsstimmigkeit sowie die Praxis der Verzierung (oder Ausschmückung): Geübte Sänger zieren ihre Melodie aus, indem sie ihre Notenwerte verkleinern (diminuieren) und Töne hinzuimprovisieren. Dazu ist ein enormes Verständnis für die damaligen Satztechniken und ‑regeln nötig. Denn diesen sind die Werke verpflichtet.
Ein Novum dieser Zeit ist die Parodiemesse, die ihren Ursprung in der Tenormesse hat. Sie legt allen Messsätzen ein mehrstimmiges weltliches Madrigal, Chanson oder eine Motette zugrunde. Manchmal übernimmt sie nur eine oder mehrere Melodien daraus, manchmal aber auch eine Akkordfolge des musikalischen Satzes. Die Motette (nachfolgend ein Beispiel des bedeutendsten Meisters dieser Zeit, Nicolas Gombert, 1495–1560) gewinnt an Bedeutung.
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Die franko-flämische Vokalpolyphonie von ca. 1550 bis 1600
Aufmerksame Leser*innen werden sich vielleicht gewundert haben, warum sich die verschiedenen Zeitabschnitte überlappen. Die zeitliche Einteilung der franko-flämischen Vokalpolyphonie wird nach verschiedenen Komponisten-Generationen vorgenommen. Sind beispielsweise die Komponisten des vierten Abschnitts gegen 1500 geboren, folgt etwa um 1520/30 die nächste Generation. Ab ca. 1550 übernimmt Italien mehr und mehr eine Vorreiterrolle in der Entwicklung der Musik (dazu mehr im nächsten Kapitel). Die franko-flämische Vokalpolyphonie ist dafür die Grundlage und wird als die verbindliche Kompositionsweise und ‑technik angesehen.
Der berühmteste Komponist dieser Zeit ist Orlando di Lasso (1532–1594): Er schafft durch den nicht mehr nur linear, sondern auch harmonisch gedachten Stimmensatz den Übergang zur Barockzeit. Am folgenden Musikbeispiel kann man das gut erkennen. Auch die Tendenz zur Mehrchörigkeit ist gut zu hören. Bemerkenswert ist, dass sich di Lasso an alle gültigen Regeln des Komponierens hält, aber sie in alle Richtungen auslotet und ausreizt. Das macht seine Musik modern und zukunftsweisend.