Dass Musik mehrstimmig ist, ist für uns eine Normalität. Aber auch die Mehrstimmigkeit musste sich erst entwickeln. Für diese Entwicklung war vor allem Frankreich als kulturelle Hochburg des Mittelalters von entscheidender Bedeutung.
Musikgeschichte(n) aus der Quarantäne
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Zusammenfassung
Dass Musik mehrstimmig ist, ist für uns eine Normalität. Aber auch die Mehrstimmigkeit musste sich erst entwickeln. Für diese Entwicklung war vor allem Frankreich als kulturelle Hochburg des Mittelalters von entscheidender Bedeutung.
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Wer hat's gemacht?
Dieser Artikel wurde mit ♥ für Euch verfasst von Henriette. Henriette studierte Musikwissenschaften in Weimar sowie klassischen Gesang in Leipzig und ist als freischaffende Sängerin tätig. Während des C(h)orona-Shutdowns unterstützt sie die Schola Cantorum mit Beiträgen zur Musikgeschichte und beweist dabei: Wissenschaft ist alles andere als graue Theorie!
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Lesedauer
Lesedauer: 12 Minuten • Musikbeispiele: 25 Minuten
4. Kapitel: Die Mehrstimmigkeit im Mittelalter
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Mehrstimmigkeit und Schriftlichkeit als Alleinstellungsmerkmale
Die Mehrstimmigkeit entwickelte sich im europäischen Raum vermutlich durch das Zusammentreffen der gregorianischen und der germanischen Musik (nördlich der Alpen) im Zuge der christlichen Missionierung. Während die gregorianische als eine horizontale, auf der Melodie basierte Musik beschrieben werden muss, war die germanische eher eine vertikale, am Klang orientierte. Die unterschiedlichen Ansätze des Musizierens verschmolzen miteinander und bildeten so die ersten Formen der Mehrstimmigkeit.
Das erstmalige Vorhandensein einer Notenschrift führte letztlich auch zur Verbreitung und Entwicklung der mehrstimmigen Musik in Europa. Denn sie konnte nicht nur sekundär als “Gedankenstütze” gebraucht werden, sondern auch primär dazu dienen, Musik zu erschaffen (“Komponieren” heißt “Zusammensetzen” unterschiedlicher Stimmen, Töne...). Die Notenschrift war auch Grundlage der Musiktheorie, die im Mittelalter zum allgemeinen Bildungskanon gehörte und natürlich zur praktischen Musiker-Ausbildung diente.
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Das frühe Organum
Das frühe Organum ist das älteste Zeugnis der europäischen Mehrstimmigkeit. Die Hauptquelle für Organa sind musikalische Traktate, also Lehrwerke. Sie bilden die Musiktheorie und ‑praxis der damaligen Zeit ab und zeigen, wie man “richtig” zweistimmig singen soll. Die Grundlage für eine zweite Stimme ist übrigens immer der “Cantus firmus”, der “feste Gesang”, also die eigentliche Melodie eines Chorals. Das wichtigste und früheste Traktat ist die “Musica enchiriadis” aus dem 9. Jahrhundert. Dort werden zwei Arten des Organums erwähnt und erklärt:
- Quintorganum: Zu dem Cantus firmus (der Vox Principalis) kommt eine zweite Stimme (die Vox Organalis) hinzu, die genau die gleiche Melodie singt, allerdings eine Quinte tiefer. Dass in diesem Beispiel teilweise 4 Töne übereinander stehen, liegt daran, dass man sowohl die Vox Principalis als auch die Vox Organalis noch oktavieren konnte.
- Quartorganum: Das Prinzip ähnelt dem Quintorganum: Die Vox Organalis sollte unter der Vox Principalis singen (dieses Mal allerdings eine Quarte tiefer). Da dabei allerdings ein Tritonus entstehen konnte (eine übermäßige Quarte bzw. verminderte Quinte – der “Diabolus in Musica”, der “Teufel der Musik”), konnten auch Primen, Sekunden und Terzen klingen.
In späteren Traktaten wurden noch andere Arten von Organa beschrieben. So wanderte zum Beispiel die Vox Organalis ÜBER die Vox Principalis (Mailänder Traktat), oder sie kreuzten und “schlängelten” sich um sich herum (Stimmkreuzorganum).
Das sogenannte “Winchester-Tropar” aus dem 11. Jahrhundert ist die erste Sammlung von Organa (außerhalb eines musikalischen Lehrwerkes). Im 12. Jahrhundert entwickelte sich dann eine neue Art des Organa-Musizierens, die in Handschriften aus dem Kloster Saint Martial in Frankreich überliefert ist: War bisher jeder Note eine Note gegenübergestellt (Discantusfaktur) konnten jetzt auch einer Note des Cantus firmus mehrere Noten gegenüberstehen (Haltetonfaktur). Das ging so weit, dass man den Cantus firmus (die eigentliche Melodie) gar nicht mehr als Melodie wahrnehmen konnte, weil sie so sehr gedehnt war. In der Sammlung von Saint-Martial finden wir auch das folgende, schöne Beispiel für die Haltetonfaktur: Der Frauenchor singt einstimmig den Cantus firmus, eine Solistin singt die Vox Organalis.
Gesungen wurden Organa zu bestimmten Festtagen und zur Ausschmückung des Gottesdienstes. Dennoch waren sie nicht für den “Genuss” gedacht, sondern um Gott höhere Ehre zu erweisen.
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Notre Dame (1163–1250)
Am 15. und 16. April 2019 brannte in Paris die Kathedrale “Notre Dame”. Nicht nur die Pariser, sondern die ganze Welt war schockiert. Internationale Anteilnahme und ein massives Spendenaufkommen folgten. Denn nicht nur als herausragendes Bauwerk ist diese Kirche von Bedeutung: Die erste Epoche der europäischen Musikgeschichte wird mit ihr in Verbindung gebracht und ist deswegen auch nach ihr benannt. Eine der entscheidenden Wegmarken war, dass die Mehrstimmigkeit, die bis dahin vor allem im klösterlichen Betrieb gepflegt worden war, jetzt in Notre Dame gesungen wurde. Das hing mit der wachsenden politischen Vormachtstellung von Paris sowie mit dem Neubau der Kathedrale im gotischen Stil (1163) zusammen: In Paris kam es zu einer kulturellen Blüte.
Wurde die Mehrstimmigkeit im Kloster vor allem in Tropen und Sequenzen eingesetzt, also in Musik, die nicht liturgisch war, hielt sie nun Einzug in die zentrale Liturgie des Gottesdienstes, so zum Beispiel in das Alleluia und das Graduale. Wir haben es hier mit Musik zu tun, die ohne eine schriftliche Konzeption nicht denkbar ist (weil nun nicht mehr nur zweistimmig, sondern sogar drei- und vierstimmig gesungen wurde). Die ersten uns bekannten Komponisten stammen aus dieser Zeit, die man als erste wirkliche “Epoche” bezeichnen kann: Leonin und Perotin.
- Leonin (ca. 1135–1204) schuf mit seinem “Magnus Liber Organi de Gradali et Antiphonario” eine Sammlung von selbstkomponierten, zweistimmigen Organa. Bei ihm gibt es zwei Organum-Formen: Organalpartien (der Cantus firmus wird unendlich zerdehnt und die Vox Organalis singt ausschmückende Melismen) und Discantuspartien (die ursprünglich melismatische Vox Principalis wird Note gegen Note gesetzt). Hier ein Beispiel für ein Leoninsches Organum als Organalpartie.
- Perotin (ca. 1155–1220) bearbeitete das “Magnus Liber” von Leonin und entwickelte das Organum durch Drei- und Vierstimmigkeit zu seiner Blüte. Hier eine dreistimmige Organalpartie von Perotin.
Bei beiden Beispielen führe man sich nochmal vor Augen, dass die zu hörenden Liegetöne die eigentliche Melodie bilden. Durch ihre Dehnung lässt diese der anderen Stimme (oder den anderen Stimmen) aber Möglichkeiten zur kunstvollen Ausgestaltung der Musik.
In dieser Epoche hat auch die Gattung “Motette” ihre Wurzeln. Sie entstand, indem man die zu einem Cantus firmus hinzukomponierten Stimmen neu textierte. Im Anfangsstadium nahm man dafür Texte, die mit dem Cantus firmus korrespondierten, zunehmend gab es aber auch weltliche Texte. Die Blütezeit sollte die Motette aber erst in der Ars Antiqua (ca. 1250–1320) und der Ars Nova im Frankreich des 14. Jahrhunderts haben.
Weil sich nun die Musik mehr- (und nicht nur zwei-)stimmig entwickelte, musste man ein System entwickeln, wie man den Rhythmus notieren konnte. Bisher konnte man sich am Rhythmus des Textes orientieren. Das war nun aufgrund der höheren Komplexität nicht mehr möglich. Es entstand die Modalnotation, über welche die Webseite mittelalter-recherche.de einen guten Überblick bietet.
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Ars Antiqua (ca. 1250–1320)
In der Ars Antiqua gewann die Motette weiter mehr an Bedeutung. Sie entwickelte sich immer weiter und nahm auch stetig neue Formen an. So sind beispielsweise Werke überliefert, in denen jede Stimme ihren eigenen Text hat (zum Beispiel die “Tripelmotette”). Oft finden wir nicht nur unterschiedliche Texte, sondern sogar verschiedene Sprachen in einer Komposition. Neu war nun, dass die Motette einem (musikalisch) gebildeten Publikum vorgetragen wurde, somit dem Musikgenuss diente und nicht mehr nur der Ehre Gottes. Sie erreichte damit sozusagen eine Berechtigung in sich selbst. Diese Entwicklung wurde auch dadurch unterstützt, dass die “Tenores” (also die Melodie) nicht mehr liturgisch sein musste, sondern zunehmend auch weltlich wurde. Inhaltlich ging es nun vor allem (auf französisch) um die Liebe und um politische Missstände (dann meist auf Latein).
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Ars Nova (Frankreich des 14. Jahrhunderts)
Ein Traktat von Philipp de Vitry (1291–1361) gab der Epoche ihren Namen “Neue Kunst”. Auch der Name “Ars Antiqua” entstammt diesem Traktat (die “alte” in Abgrenzung zu der “neuen” Kunst). Die französische Musik war wegweisend für die europäische Musik. In wenigen Jahren vollzogen sich hier bedeutende Entwicklungen. Durch die Weiterentwicklung der Mensuralnotation konnten kompliziertere Rhythmen aufgeschrieben und komponiert werden. Damit einher ging, dass die Kompositionen immer kunstvoller wurden und somit auch einzigartiger und unverwechselbarer. Immer mehr wurden sie zu eigenständigen “Kunstwerken”, lösten sich also von ihrer ursprünglichen Funktion. Die Bedeutung des Komponisten bekam dadurch auch einen höheren Stellenwert.
Die Mehrstimmigkeit wurde jetzt nicht nur auf die “besonderen” Messtexte angewandt, sondern auch auf die, die bei jedem Gottesdienst als “Ordinarium Missae” gesungen wurden, was zur Folge hatte, dass in den Kirchen viel mehr gesungen wurde. Die wohl bedeutendste Messkomposition dieser Zeit ist die vierstimmige “Messe de Notre Dame” von Guillaume de Machaut (1300–1377), im Folgenden eingerichtet zum Mitlesen der originalen Notation.
Im Hinblick auf die Notation der Musik muss ein Aspekt unbedingt erwähnt werden: Die dreifache Unterteilung eines Notenwertes und eines Taktes wurde in dieser Epoche als “perfekt” bezeichnet, denn sie stand für die heilige Dreifaltigkeit (Vater, Sohn und heiliger Geist). Und obwohl bereits längst auch die “imperfekte” Unterteilung (also eine, die man durch zwei teilen kann) üblich war, wurde das “Tempus imperfektum” neben dem “Tempus perfektum” nun gleichberechtigt verwendet. Die verwendete Mensur musste nur gekennzeichnet werden: Perfekt mit einem Kreis, imperfekt mit einem Halbkreis. Daher kommt das für den 4/4‑Takt heute noch übliche “C” am Anfang der Notenzeile.
In der auch für die Ars Nova wichtigsten Gattung “Motette” fand eine weitere Veränderung statt: Es entwickelte sich Isorhythmie als Gestaltungsprinzip. Wie in beinahe jeder Entwicklung liegt auch diesem Prinzip erst ein Problem zugrunde: Der Tenor (also die Grundmelodie der Motette) war manchmal nicht lang genug, um durch das ganze Stück erklingen zu können. Deshalb wurde er wiederholt. Das konnte in unterschiedlicher Art und Weise passieren: Entweder wurde die Melodie wiederholt (“Color”) oder/und der Rhythmus (“Talea”). Entweder deckten sie sich oder sie überschnitten sich. Das heißt eine “Color” kann in unterschiedlichen “Taleae” vorkommen. Es ergaben sich unendlich viele Kombinationen und dennoch hatte man wahrscheinlich oft das Gefühl, etwas schon zu kennen.
Außer der Motette waren weltliche Liedsätze in Ars Nova von großer Bedeutung: die Ballade, das Virelai und das Rondeau. Auch der “Hoquetus” (eine Kompositionstechnik), wurde in dieser Zeit häufig verwendet. Die Melodie wurde auf mehrere Stimmen verteilt, sodass verschiedene Stimmen für abwechselnde Melodieabschnitte verantwortlich waren. Das Klangbild, das sich ergab, erinnert an einen Schluckauf (Hoquetus).
Neben der französischen spielte auch die Musik Italiens und Englands eine wichtige Rolle. Die italienische Musik des 14. Jahrhunderts (das “Trecento”) ist vor allem für die Gattung “Madrigal” bekannt. Ein mehrstimmiges, weltliches und italienischsprachiges Vokalstück, das politische, satirische und auch erotische Stoffe behandelte. Die Bedeutung Englands für die mehrstimmige Musik der Ars Nova liegt eindeutig in der klanglichen Bevorzugung von Terzen und Sexten (eigentlich die ungeliebten “imperfekten” Konsonanzen) zwischen den Stimmen. Dadurch ergab sich nicht nur ein anderer Klang, die Folge waren auch andere Satztechniken: Der Tausch der Stimmen war möglich, ohne nach damaligem Verständnis einen Satzfehler zu begehen. So entstanden Gattungen wie der Kanon oder das Rondell.